Getagged: Sexualisierte Gewalt
#NotAllMen und der Zorn der belästigten Frauen
Trigger-Warnung: sexualisierte Gewalt, Gewalt gegen Frauen, Mord
Ich bin wütend. Neulich bin ich abends nach Hause gefahren. Ich sitze also in der Tram und scrolle durch Instagram. Mir gegenüber sitz ein Typ, Anfang oder Mitte dreißig, die Beine breit, die Maske lässig unter der Nase hängend. Ich schenke ihm keine große Beachtung, habe ihn nur kurz wahrgenommen, als er einstieg und sich mir gegenüber niederließ.
Irgendwann stups er mich mit seinem Fuß an. Ich blicke auf. Er nickt mir zu und sagt „Na Süße? Kriegt man deine Nummer?“. Ich verneine und gucke dabei wahrscheinlich etwas irritiert, immerhin ist er wahrscheinlich 20 Jahre älter als ich. Er entgegnend jedenfalls, ich solle nicht gleich so sauer gucken, er hätte ja nur nett sein wollen. Er lehnt sich nach vorne und stützt sich auf seinen Knien ab. Mir ist das zu nahe, ich stehe auf und gehe zur übernächsten Tür. Er ruft mir noch etwas hinterher, ich ignoriere ihn und steige aus. Es ist nicht meine Haltestelle, aber ich sitze lieber ein paar Minuten in der Kälte, als weiter mit ihm in einer Bahn zu sein. Nachdem sicher ist, dass er mir nicht aus der Bahn gefolgt ist, entspanne ich mich ein wenig.
Der Rest der Fahrt ist ereignislos. Über Kopfhörer höre ich Musik. Es ist mittlerweile kurz vor 10 Uhr. Die Tram hält, ich steige aus. Die Ampel ist rot, ich bleibe also stehen. Von der Seite nähert sich mir ein Mann. Ich merke ihn erst nicht, er tippt mich an. „Hauptbahnhof?“, fragt er mich. Er spricht undeutlich, scheint betrunken zu sein. Ich reagiere nicht sofort und er fragt nochmal. Ich deute in die Richtung, wo die Bahn in Richtung Hauptbahnhof fährt. „Da lang.“, sage ich ihm. Er lächelt mich an, lehnt sich nach vorne – und stolpert gegen mich. Nicht sonderlich heftig, aber so, dass sich sein Körper für einige Sekunden in kompletter Länge gegen meinen presst. Ich schiebe ihn mit meinem Arm von mir weg. Mir ist ein bisschen schlecht.
Nachdem ich die Straße überquert habe, rufe ich eine Freundin an. Ich sage ihr, wo ich bin und das da ein Mann ist, der mir Angst macht. Mit schnellen Schritten laufe ich nach Hause und wende mich noch ein paar Mal um, um zu sehen, dass er mir nicht folgt. Tut er nicht, trotzdem habe ich in meiner Jackentasche meine Hand so um mein Schlüsselbund geballt, das zwischen jedem meiner Knöchel ein spitzer Schlüssel hervorragt. Das Handy in der linken, die improvisierte Waffe in der rechten Hand, komme ich zu Hause an. „Puh“, denke ich. „Vielleicht doch etwas überreagiert.“, sage ich meiner Freundin.
Nach ein bisschen Nachdenken finde ich nicht, ich hätte überreagiert. Innerhalb von 20 Minuten haben zwei verschiedene Männer mich, eine 17-Jährige, auf eine Weise angesprochen, die mir das Gefühl gab, ihnen ausgeliefert zu sein. Beide Male war ich in einer gut ausgeleuchteten Umgebung, beide Male befand ich mich in Hörweite anderer Menschen. Beide Male muss offensichtlich gewesen sein, dass ich Angst hatte, beide Male hat sich niemand eingemischt.
Diese Begegnungen sind nichts neues. Als Frau wird einem regelmäßig hinterher gepfiffen oder gerufen, man wird angestarrt, angemacht und beschimpft, grade wenn man seinen Unwillen äußert. Wissen wir alle, passiert ständig. Ist auch für mich nicht das erste Mal. In der U-Bahn hat mir mal einer richtig heftig an den Hintern gefasst. In einem vollen Wagon, umgeben von Beobachtenden. Da war ich grade 15 geworden. Ich glaube, ich hab in meinem Leben noch nie so geheult. Dreckig und ohnmächtig habe ich mich gefühlt.
Jede meiner Freundinnen kann Ähnliches, oft viel Schlimmeres berichten. Oft telefonieren wir, wenn wir vorher zusammen unterwegs waren, damit niemand verloren geht. Zwei von ihnen tragen immer Pfefferspray oder andere Waffen zur Selbstverteidigung an sich. Wenn ich unterwegs bin, grade wenn ich vor habe zu trinken, trage ich immer meine Doc Martens-Stiefel, um im Notfall rennen oder treten zu können. In der Bahn achte ich darauf, nicht zu viel Haut zu zeigen. Ich sitze aufrecht und achte darauf, meine Schultern breit zu halten, damit ich nicht als leichtes Opfer ins Visier übergriffiger Männer gerate.
All das gehört zu meinem Alltag. In meinem Hinterkopf schwebt immer der Gedanke an die Gefahr, die von den Männern in meiner Nähe ausgeht. Und ich bin weiß, körperlich nicht grade klein und trage kein Kopftuch. Ich will mir nicht vorstellen, wie angsteinflößend der Nachhauseweg für andere Frauen sein mag.
Das ist doch scheiße, oder? Das ich mich nicht sicher fühle, wenn ich allein bin. Und eben auch, dass ich mein Verhalten anpasse. Es gibt Klamotten, die ich nicht trage und Ort die ich nicht betrete, wenn es dunkel ist und ich allein unterwegs bin. Ich passe mich an, schränke mich ein, obwohl ich doch ganz eindeutig nicht das Problem bin. Vielen Frauen geht es genauso.
Das zeigt auch die Debatte um die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum, welche nach dem Verschwinden der 33-Jährigen Sarah Everard auf ihrem Nachhauseweg durch London entbrannte. Everard verschwand am Abend des 3. März. Sie trug helle Klamotten, Laufschuhe, war nicht betrunken, ging schon gegen halb zehn, wählte einen gut ausgeleuchteten Weg und kontaktierte ihren Freund, damit er wusste, wo sie war. Sarah tat alles, was jungen Frauen und Mädchen ein Leben lang eingetrichtert wurde, um sicher zu bleiben. Und trotzdem passierte ihr das Unaussprechliche. Mittlerweile sitzt ein Polizist wegen der Entführung und Ermordung Everards in Untersuchungshaft.
In Folge des Verbrechens an Sarah Everard entbrannte in Großbritannien und weltweit eine Debatte, in der Menschen, insbesondere Frauen, unter Hashtag wie #reclaimthestreets ihre Erfahrungen teilen und für Gesetze und Maßnahmen plädieren, die die Gefahr für Frauen im Alltag minimieren. Scheint einleuchtend, nicht wahr? Eine Frau, wird auf dem Nachhauseweg ermordet und Tausende Frauen sagen: „Es reicht! So geht das nicht weiter!“. Doch innerhalb von Stunden werden überall im Internet und in der Öffentlichkeit generell Rufe wie „Not all men“ (‚Nicht alle Männer‘) laut. Diese Menschen reden davon, dass nicht alle Männer Vergewaltiger, Mörder, Frauenhasser sind und versuchen damit den Aufschrei zu diskreditieren. Nicht wenige Männer machen den (leider ernstgemeinten) Vorschlag, Frauen sollen einfach nicht mehr so spät das Haus verlassen, wenn sie sich nicht sicher fühlen. Außerdem sein diese Frauen ja auch total hysterisch und würden komplett überreagieren. In einer Welt voller Feminist*innen und #Metoo könne die Lage doch gar nicht mehr so schlimm sein. Es handle sich nur um den nächste Schritt der männerhassenden Verschwörung, die den Männern ihre Positionen wegnehmen wolle, um sie dann an die BH-losen, unrasierten, radikalen Feministinnen dieser Welt zu geben.
Aber darum geht es nicht. Es ist grundlegend falsch, Frauen einzuschärfen, es wäre ihre Schuld, wenn Männer sie bedrängen, belästigen, begrapschen. Klassisches sogenanntes „victim-blaming“, als die Schuldzusprechung des Opfers. Wenn Männer Frauen vergewaltigen, oder sie sexuell belästigen, dann tun sie das nicht, weil die Frau einen zu kurzen Rock oder ein zu freizügiges Oberteil tragen. Sie tun es, weil sie sich mächtig fühlen. Weil sie wissen, dass die Schuld immer noch in zu vielen Fällen beim Opfer gesucht wird, weil sie wissen, dass es selten zur Verurteilung kommt und dass Vergewaltigungen selten zur Anzeige und Strafverfolgung gebracht werden.
In der Debatte geht es nicht darum, Männer generell zu verurteilen oder ihre Rechte einzuschränken. Es geht um ein Klima, das es Frauen nicht erlaubt, sich frei und selbstbestimmt zu bewegen. Eine Gesellschaft, die Männern immer noch „sexuelle Fehltritte“ erlaubt und zu vielen von ihnen das Gefühl gibt, sich nehmen zu können was sie wollen. Es geht um die Aufarbeitung einer Vergewaltigungskultur, in der jede Frau einen Berg voll Erfahrungen mit übergriffigen Männern hat. Es geht darum, endlich ein zielführendes Gespräch darüber zu führen, dass 2018 an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem jetzigen oder früheren Partner umgebracht wurde. Das ist keine „Hexenjagd“ gegen alle Männer. Nein, der Feminismus ist nicht „endgültig zu weit gegangen“. Wir verlangen nichts Abwegiges. Wir wollen uns sicher fühlen. Wir wollen keine Angst mehr, vor jedem Mann haben müssen, der uns nachts auf der Straße begegnet. Wir wollen ein Minimum an menschlicher Würde, und trotzdem ist es für viele Menschen (grade Männer) immer noch nicht selbstverständlich, Frauen zuzuhören, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen und die das Gefühl haben, sich und ihr Geschlecht, mit Aussagen über die Klamotten des Opfers oder den „stärkeren Sexualtrieb der Männer“ verteidigen zu müssen. Nicht alle Männer, aber solche Männer sind das Problem.