„Eigentlich geht’s uns doch ganz gut.“ – Was mich eine globale Pandemie über Privilegien lehrte
Ein Kommentar von Paula Moritz, 11b
Seit ein paar Monaten steht die Welt Kopf. Kaum etwas ist mehr so, wie es mal war. Plötzlich kämpfen ganze Gruppen von Menschen ums Überleben und Berufsgruppen um die Existenz. „Normal“ ist seit März überhaupt nichts mehr. Auch für mich hat sich viel geändert. Schule besuchen und danach mit Freunden abhängen ist plötzlich ein Ding der Unmöglichkeit. Die letzten Wochen waren hart. Für uns alle. Aber während ich dabei bin, in Selbstmitleid zu ertrinken, machen mir die Nachrichten immer mehr klar, was für ein unfassbares Glück ich habe, wie verdammt privilegiert ich bin und auch, wie wenig es mir zusteht, mich selbst zu bemitleiden. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir bewusst Zeit genommen, mir über die glücklichen Umstände meines Lebens Gedanken zu machen und mir explizit bewusst zu machen, wie wenige Menschen in der gleichen Position sind. Grade jetzt.
In allererster Linie profitiere ich, wie in so vielen Dingen, davon, in Europa, insbesondere Deutschland geboren zu sein. Eine reiche Industrienation und dazu noch eine gefestigte Demokratie. Ich muss mir also kaum sorgen um Massenarbeitslosigkeit und -armut machen. Ich kann mit Sicherheit sagen: „Ich werde niemals Hunger leiden müssen, ich werde auch in einem halben Jahr noch ein Dach über dem Kopf haben.“. Außerdem verschlimmert der Ausbruch des Coronavirus in Deutschland kaum Unruhen oder militärische Auseinandersetzungen. Ich brauche mir keine Sorgen machen, meine demokratische Regierung könnte stark geschwächt und aus dem Amt geputscht werden. Ich muss nicht in einem überfüllten Flüchtlingslager ausharren und beten, dass es sich nicht zum Infektionsherd entwickelt, weil in meiner Heimat Bürgerkrieg für Angst und Schrecken sorgt. Dafür bin ich so unfassbar dankbar, dass ich manchmal nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.
Doch auch im Vergleich mit anderen G7-Staaten (Gruppe der 7 wichtigsten Industrienationen weltweit: Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Großbritannien, USA) schneidet Deutschland hervorragend ab. Die Bundesregierung reagierte relativ früh und befolgt die Empfehlungen der unabhängigen Weltgesundheitsorganisation in Gänze. Die Grenzen sind zu, das Gleiche gilt für die Schulen. Das oberste Gebot heißt Selbstisolation. Die heftige Reaktion, welche nun immer mehr in Kritik gerät, sorgt für einen langsameren Anstieg der Infektionszahlen und verhindert restlos überlastete Krankenhäuser, wie wir sie schon im März in Italien beobachten konnten. Hier muss kein Krankenhauspersonal entscheiden, wer behandelt und wer dem Tod überlassen wird. Und das ist ein Privileg. Unsere Regierung ist in der wunderbaren Situation jahrelang mehr eingenommen als ausgegeben zu haben, weshalb jetzt Milliarden von Euro in Hilfspakete investiert werden können. Auch wenn die Rezession wohl viele trotzdem treffen wird, kann ich mir sicher sein, dass es danach wieder bergauf gehen wird. Schon jetzt erholt sich der stark gefallene DAX (Deutscher Aktien Index) wieder stetig.
Darüber hinaus kann ich mich, sollte ich an SARS-CoV-2 erkranken, auf ein stabiles, modernes und vor allem öffentliches Gesundheitssystem stützen. Das erhöht meine Chancen auf Genesung ungemein. Wir müssen uns nicht darum sorgen, uns einen Aufenthalt im Krankenhaus, sollte dieser nötig sein, nicht leisten zu können, weil jeder einzelne Bürger krankenversichert ist. Das ist nicht überall gegeben, siehe Vereinigte Staaten. Auch ist unser System nicht durch jahrzehntelange Unterinvestition zerrüttet, wie es beispielsweise beim National Health Service (kurz: NHS) des Vereinigten Königreichs und Nordirlands der Fall ist.
Doch auch privat habe ich Glück. Mehr als Milliarden anderer. Meine Familienverhältnisse sind stabil. Ich bin nicht eines zehntausender Kinder in Deutschland, die von häuslicher Gewalt bedroht sind. Und weder ich noch meine Familie gehören zur Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer potenziellen Covid-Erkrankung. Ich mache mir keine Sorgen um die Leben meiner Liebsten. Stattdessen traure ich dem Treffen mit Freunden und dem gemeinsamen Feiern von Geburtstagen hinterher.
Hinzu kommt, dass auch meine Bildung weniger leidet als bei anderen, weniger gut gestellten Schülern. Unser Unterricht wird seit zwei Monaten ausschließlich digital erteilt. Ich profitiere in extremen Maß davon, einen eigenen Laptop und einen stabilen Internetzugang mein Eigen nennen zu können. Auch ist es mir möglich, gut allein arbeiten zu können. Meine Arbeitsergebnisse werden nicht von aufmerksamkeitsbedürftigen Geschwistern oder sich verschlechternder mentaler Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen.
Das alles führt dazu, dass ich diese schwierigen Zeiten angenehmer durchstehen kann als andere. Und dafür bin ich dankbar. Ich versuche, dieser Privilegien gerecht zu werden und mit stets bewusst zu sein, dass ich mehr habe, als ich brauche. Die letzten Wochen haben einiges in meinem Selbstbildnis verändert. Vor allem eben mein Bewusstsein über Zustände, auf die ich keinen Einfluss habe, die mir aber ein gutes Leben ermöglichen. Manchmal fühle ich mich deswegen schuldig. Ich habe so viel, ohne etwas dafür getan zu haben. Und trotzdem bemitleide ich mich und tue mir leid, weil ich auf den ein oder anderen Luxus verzichten musst. Deshalb tut es mir gut, mir meine Vorteile im Leben so geordnet vor Augen zu führen.