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“Antirassismus geht uns alle an”| Interview mit Filiz Polat
Filiz Polat ist Abgeordnete des Deutschen Bundestags für die Partei Bündnis 90/Die Grünen. Sie kommt aus Niedersachsen und vertritt ihre Fraktion im Bundestagsausschuss für Inneres und Heimat und stellvertretend im Ausschuss für Menschenrechte. Sie ist studierte Volkswirtin und Sprecherin der grünen Fraktion für Migration und Integration.
qurt.news: Was schlagen Sie vor, um Antirassismus in Schule und Alltag prominenter zu machen?
Filiz Polat: Antirassismus geht uns alle an, trifft aber nicht jeden gleichermaßen. Es ist ganz wichtig, dass das jede und jeder von uns als Leitsatz verinnerlicht und das wir uns alle unserer Privilegien bewusst sind. Das gilt, gerade wenn wir nicht zu einer Minderheit gehören die von Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus betroffen ist. Zu einer konsequenten antirassistischen Politik gehört einerseits, Menschen, die diskriminiert werden, zu schützen. Das ist Aufgabe des Staates und der Zivilgesellschaft. Auf der anderen Seite bedeutet es, zu erkennen, dass Rassismus in unserer Gesellschaft schon lange tief verwurzelt ist und es dadurch für viele Menschen Benachteiligungen gibt, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein Beispiel: über Jahrzehnte wurden Männer, die Männer geliebt haben, oder Frauen, die Frauen geliebt haben, strafrechtlich verfolgt. In Deutschland war das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein so und das hat natürlich zu Nachteilen geführt, auch am Arbeitsmarkt.. Es gibt einfach strukturelle Benachteiligungen und die gilt es auszugleichen. Das bedeutet Platz zu machen, damit die Vielfalt in unserer Gesellschaft auch in den Führungsetagen sichtbar wird. Ein ganz wichtiger Baustein ist die Schule. Hier gilt es das alles zu thematisieren und vor allem mehr über Rassismus und die dahinter stehenden Strukturen zu lernen. Ein Beispiel ist der Kolonialismus, der bis heute wirkt. Gleichzeitig geht es darum, Vielfalt sichtbar zu machen. Unsere Schulbücher sind doch sehr weiß und zeigen nicht die Realität, wie unsere Schülerschaft zusammengesetzt ist oder wie bunt mittlerweile Familien sind.
qurt.news: Frau Polat, wir führen in Deutschland ja nicht zum ersten Mal eine öffentliche Debatte über Rassismus in der Gesellschaft. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Qualität dieser Debatte verändert?
Filiz Polat: Das ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist doch eine andere Qualität, weil wir jetzt wirklich auch über Rassismus reden und nicht nur über Rechtsextremismus. Früher lag der Fokus sehr stark auf Rechtsextremismus und damit einhergehender Gewalt. Heute sprechen wir auch durch die Black-Lives-Matter-Bewegung mehr über das Thema Rassismus, was Rassismus heißt, in all seinen Facetten und wie dieser in unseren Institutionen und unserer Gesellschaft strukturell verankert ist. Viele Menschen fangen an sich dabei selbst zu reflektieren und über ihre Privilegien nachzudenken. Natürlich nicht alle, denn wenn ich selbst von Rassismus nicht betroffen bin und es mir gut geht, zumindest was das Thema anbetrifft, warum soll ich mich damit auseinandersetzen? Das ist erstmal der bequemere Weg, doch mittlerweile fängt zumindest ein großer Teil der Bevölkerung an, darüber nachzudenken: Wie geht es Menschen in Deutschland, wenn sie von Rassismus betroffen sind? Und was hat das mit mir zu tun? Ich glaube diese Qualität ist schon anders. Andererseits haben wir, auch durch die rechtsextreme Partei, die mittlerweile in den Parlamenten in Bund und Land sitzt, sehr krasse Debatten. Sie werden sehr emotional, sehr populistisch und mit Worten geführt, die versuchen nationalsozialistische Sprache wieder hoffähig zu machen. Damit wird die Debatte insofern vergiftet, dass vermeintlich die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, wenn man bestimmte Wörter heute nicht benutzen sollte, wie zum Beispiel das N-Wort. Dieser Rechtspopulismus ist rassistisch und eine Gefahr für unsere Demokratie und unser Zusammenleben.
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qurt.news: Es wird ja im politischen Diskurs grade wieder viel über Rassismus und Fremdenhass gesprochen. Wie kriegt man die Politik dazu, dass dort besprochene auch wirklich umzusetzen?
Filiz Polat: Wir haben jetzt auf Bundesebene gerade nach den Anschlägen in Halle und Hanau insofern Bewegung in die politische Auseinandersetzung bekommen, als das auf Druck der Zivilgesellschaft ein sogenannter Kabinettsausschuss eingerichtet wurde, wo sich verschiedene Ministerinnen und Minister zusammengesetzt haben, um ein Maßnahmenpaket gegen Rassismus und Rechtsextremismus zu erarbeiten. Das ist im November verabschiedet worden und wird jetzt gerade umgesetzt. Meine Hauptkritik an diesem Maßnahmenpaket ist, dass die Bundesregierung nicht selbst reflektiert, wo in den eigenen Strukturen Rassismus zu bekämpfen ist. Eine wichtige Forderung von Menschen, die Diskriminierung erfahren, ist zuzugeben, dass auch der Staat diskriminiert. Schwarze Menschen berichten vom sogenannten racial profiling. Wenn man Schwarze Menschen in Deutschland trifft, sagen sie: „Es gibt keine Woche, wo ich nicht einmal am Bahnhof von der Polizei kontrolliert werde“. Jede*r, der*die nicht schwarz ist, kann hingegen an einer Hand abzählen, wie oft er*sie in einem Jahr anlasslos von der Polizei kontrolliert wird. Es muss den Staat interessieren, die entsprechenden Ursachen zu eruieren. Das ist ja kein Zufall, was steckt dahinter? Und dem verweigert sich die Bundesregierung auch mit diesem Maßnahmenpaket. Was mir besonders wichtig ist: Wir haben ja einen Diskriminierungsschutz in Deutschland, verankert im Grundgesetz in Artikel 3. Ausdruck findet dieser im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Wenn ich diskriminiert werde, dann kann ich das zivilrechtlich geltend machen. Dieses Antidiskriminierungsgesetz ist bis heute viel zu schwach, weil es zum Beispiel staatliche Diskriminierung nicht beinhaltet. Das müsste man dringend ändern, auch aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen Deutschlands. Dem ist aber die Bundesregierung genauso wenig nachgekommen, das heißt überall, wo es um wirklich wichtige gesetzliche Maßnahmen für einen stärkeren Diskriminierungsschutz geht, bleibt die Bundesregierung tatenlos. Immerhin macht sie jetzt einen großen Schritt in Richtung Forschung. Wir haben sehr wenig Daten darüber, wie Rassismus wirkt und wie er historisch bedingt ist. Da investiert die Bundesregierung ein wenig Geld, um hier die Datenlage zu verbessern. Das ist gut.
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qurt.news: Angesichts des wieder aufflammenden Konflikts im Nahen Osten kam es in den vergangenen Wochen zu antisemitischen Aussagen und Taten im Rahmen pro-palästinischer Demonstrationen. Was kann die Politik und was können wir als Schüler*innen machen, um dem entgegenzuwirken?
Filiz Polat: Der Antisemitismus in Deutschland hat viele Gesichter. Er drückt sich in verschiedenen Formen aus, ganz wichtig ist, dass man sich als Schüler*in mit Antisemitismus und den Formen von Antisemitismus auseinandersetzt. Natürlich auch wenn es darum geht, die außenpolitische Dimension, hier den Nahostkonflikt, im Unterricht zu thematisieren. Es ist wichtig, dass man die Mechanismen lernt und den Unterschied erkennt zwischen Israel-Kritik und ganz klassischem Antisemitismus. Wenn zum Beispiel die doppelte-Schuld-Frage eine Rolle spielt, also das “das was den Juden angetan wurde, jetzt die Juden mit den Palästinensern antun”, dann ist das Antisemitismus. Es ist wichtig, dass man das Schüler*innen aber auch Erwachsenen beibringt. Gerade wenn man in der Schülerschaft junge Menschen hat, die neu zugewandert sind aus einem Land, in dem ein ganz anderer historischer Hintergrund das Gespräch über die Shoah (Holocaust) bestimmt. Es wichtig, die verschiedenen Perspektiven einfließen zu lassen und auch vielleicht mal forsch zu diskutieren. Erklärungen helfen bei der Einordnung und wenn folglich antisemitische Sätze fallen, müssen diese ganz klar verurteilt werden.
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qurt.news: Haben Sie konkrete Tipps, wie wir als überwiegend weiße Jugendliche bessere Verbündete im Kampf gegen Rassismus werden können?
Filiz Polat: Im Grunde geht es darum, Allianzen zu bilden. Rassismus und Sexismus sind oft zwei Seiten einer Medaille. Wenn man Feministin ist, dann ist es wichtig, dass Männer sich selbst reflektieren und an der Seite von Frauen stehen. Das kann man zum Beispiel bei den Debatten, dass Frauen abends oftmals Angst haben, alleine nach Hause zu gehen. Ein erster Schritt wäre, dass Männer sich mal Gedanken machen sollen, warum das so ist. Und sich auch mit Frauen darüber austauschen, was das bedeutet, mit diesem Grundgefühl aufzuwachsen und das schon als selbstverständlich anzusehen. Deswegen ist es wichtig zu schauen, dass man überall, wo es um Diskriminierung geht, Allianzen schmiedet und im Gespräch bleibt. Das gilt gerade für die Menschen, die in dem Fall nicht von dieser Diskriminierung betroffen sind. Ich persönlich setze mich jetzt zum Beispiel sehr intensiv mit Inklusion von Menschen mit Behinderung auseinander. Was kann ich tun, um inklusiver zu denken und zu handeln? Man kann sich nicht ständig damit beschäftigen, aber man kann sich das für sich selbst vornehmen oder eben gemeinsam mit Freund*innen Verbündete suchen. Und das in seinem eigenen Umfeld oder an der eigenen Schule thematisieren. Es ist für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, bestärkend, wenn nicht nur sie selbst die Themen ansprechen. Wenn ich jetzt als eine Frau mit türkischen Wurzeln in der Klasse angefeindet werde, möchte ich das nicht thematisieren müssen, sondern ich freue mich, wenn das meine Klassenkameradin anspricht.
qurt.news: Wie können junge Menschen politisch aktiv werden? Wie kann man auch wirklich was erreichen? Das Wahlrecht bekommen wir ja erst ab 18 und jugendpolitische Bewegungen wie „Fridays for Future“ werden meist belächelt.
Filiz Polat: Ich bin natürlich auch für die Absenkung des Wahlalters. Aber ich würde jetzt nicht sagen, dass das wirkungslos ist, was diese Generation schon erreicht hat. Ich selber habe ja auch angefangen politisch aktiv zu werden, noch bevor ich volljährig geworden bin. Mich hat motiviert, zu sehen, dass das, was ich angesprochen habe gehört wird und umgesetzt wird. Manchmal dauert es zwar länger und manchmal ist es wirklich ein Bohren dicker Bretter. Gerade als junger Mensch ist man oft ungeduldig, man will schnell was erreichen und das ist auch gut so. Und wenn man sich zusammenschließt, kann man auch richtig was erreichen, Greta Thunberg ist hierfür nur eines von vielen Beispielen. Wichtig ist, sich ein konkretes Projekt vorzunehmen. Nehmen wir das von mir angesprochene Beispiel Schule und Menschen mit Behinderung. Wie kann eine Schule inklusiv aussehen? Was sind die wichtigsten Sachen, die man vielleicht sogar ganz schnell umsetzen kann und was dauert vielleicht etwas länger? Oder eben beim Thema Rassismus. Da kann man sich eine Woche auszusuchen und eine Projektwoche veranstalten und dann dieses Thema auch mit Menschen von außen bearbeiten. Schule soll ja auch ein Raum sein, der offen ist und Reflektion von außen einholt. Spannend wäre auch, ein Schulbuch komplett umzugestalten. Wie kann eigentlich ein Schulbuch im 21. Jahrhundert aussehen? Wie kann es die Gesellschaft in seiner Realität der spiegeln? Jede*r kann was dazu beitragen, jede*r kann aktiv werden.
qurt.news: Was machen die Grünen, um Diskriminierung jeder Art in der Gesellschaft einzuschränken? Gibt es konkrete Ziele?
Filiz Polat: Wir haben drei zentrale Säulen, wie wir auf strukturellen Rassismus strukturelle Antworten geben. Wir wollen ein scharfes Schwert im Kampf gegen Diskriminierung und deswegen fordern wir ein Bundesantidiskriminierungsgesetz, was keine Ausnahmetatbestände, wie im aktuellen Gesetz vorgesehen, zulässt. Zum anderen ist es beim Diskriminierungsschutz im Moment so, dass man nur gegen private Diskriminierung vorgehen kann, aber nicht, wenn der Staat, also Behörden, diskriminierend handeln. Das ist eine der wesentlichen Änderungen, die wir fordern. Wichtig dabei ist auch, dass man in ganz Deutschland ein Netzwerk von Beratungsstellen hat. Die meisten Menschen wissen nicht, wann sie und wie sie Antidiskriminierung geltend machen können, deshalb sind Ansprechpartner*innen vor Ort besonders wichtig. Damit kommen wir schon zur Zivilgesellschaft. Sie ist ein ganz, ganz wichtiger Partner für den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus, aber auch für großflächige politische Bildung. Um die Zivilgesellschaft zu stärken, fordern wir ein Demokratiefördergesetz, das heißt, dass man sich nicht von einem Jahr zum nächsten um Projektgelder bewerben muss und sich von Projekt zu Projekt hangelt, sondern dass man wirklich strukturell gefördert wird und verlässliche Strukturen schafft. Der dritte große Baustein sind Repräsentation und Teilhabe. Dafür wollen wir erstmalig ein Gesetz auf den Weg bringen, welches positive Fördermaßnahmen für Menschen, die strukturell benachteiligt werden, ermöglicht. Denn eine chancengerechte Gesellschaft gestalten wir nur, wenn alle gleichberechtigt am Tisch sitzen können.
qurt.news: Vielen Dank.
Das Gespräch führte Paula Moritz.
Das Bedingungslose Grundeinkommen – Zukunft des deutschen Sozialstaats?
Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist ein Konzept, bei dem jeder Mensch monatlich einen bestimmte Menge Geld ausgezahlt bekommen würde, ohne etwas dafür tun zu müssen. Geschenktes Geld also – klingt erstmal toll, oder? Doch wie funktioniert es? Woher kommt das Geld? Und welche Folgen hätten solche Zahlungen?
Die Idee
Jede*r Bürger*in erhält – unabhängig von ihrer oder seiner Lage – eine gesetzlich festgelegte und für jede*n gleiche, vom Staat ausgezahlte finanzielle Zuwendung, ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Diese Finanzleistung wäre ohne weitere Einkommen oder bedingte Sozialhilfe existenzsichernd, würde also ein Leben ohne Armut ermöglichen. Für die Verwendung des Geldes gäbe es keine Überprüfungen und keine Bedingungen, jeder darf damit machen, was er/sie möchte. Neben dem Schutz vor Armut wäre ein BGE in seiner Essenz auch ein Ersatz für die momentan existierenden, abgabenfinanzierte Sozialleistungen wie das Arbeitslosengeld, die Sozialhilfe und das Kindergeld.
In Deutschland wird je nach Modell eine Zahlung in Höhe des Arbeitslosengeldes II (Hartz 4) bis zu einer Zahlung von 1500 € im Monat vorgeschlagen. Zusätzliches Einkommen ist immer erlaubt und wird, anders als im jetzigen System, nicht auf das bedingungslose Grundeinkommen angerechnet. Das heißt, das BGE kann nicht gekürzt werden, wenn Empfänger*innen hinzuverdienen.
In der Umsetzung wäre eine starke Vereinfachung und Neuordnung des Steuersystems und weniger Aufwand in der Sozialverwaltung vorgesehen, da die bisherigen Sozialleistungen nach und nach durch das Grundeinkommen ersetzt würden.
Und wer soll das zahlen?
Für 2016 betrugen die Sozialleistungen in Deutschland laut statistischem Bundesamt insgesamt 918 Mrd. Euro. Ein BGE würde den Staat je nach Höhe im Jahr zwischen etwa 600 und 1.100 Mrd. Euro kosten. Durch den Wegfall anderer Sozialleistungen würden Mittel in Milliardenhöhe frei, es ist jedoch offensichtlich, dass diese Mittel nicht ausreichen werden, das BGE zu finanzieren. Das fehlende Geld könnte der Staat durch erhöhte Steuern in bestimmten Bereichen erwirtschaften. Hier ist die Rede von der Besteuerung von Konsum, der Besteuerung des Einkommens, der Besteuerung natürlicher Ressourcen und/oder der Besteuerung des Geldverkehrs. Die bezweckte Wirkung aller Finanzierungsmodelle ist die Umverteilung des Vermögens von Reich zu Arm. Reiche machen also geringe Einbußen, während Arme hinzugewinnen.
Pro und Kontra
Aber hätte ein BGE wirklich das Ende von Armut zur Folge? Oder würde die komplette Umstrukturierung des Sozialstaats mehr Schaden anrichten, als es Nutzen bringen würde?
Erst einmal kostet ein Universelles Grundeinkommen mehr als momentan für den deutschen Sozialstaat zur Verfügung steht, folglich wären Steuererhöhung wäre nötig, das könnte die Kaufkraft der Bevölkerung beschränken und der Wirtschaft schaden. Außerdem können Arbeitgebende das BGE missbrauchen, um die Löhne so niedrig wie möglich zu halten und die Last fairer Löhne auf die öffentliche Hand abzuwälzen. Gewerkschaften warnen, ein BGE sei gleichbedeutend mit Lohnsubventionen – es käme also vor allem Unternehmen zugute.
Christoph Butterwegge, deutscher Politikwissenschaftler, befürchtet, das BGE könnte den Druck Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen senken, da Arbeit keine Notwendigkeit zu einem komfortablen Leben mehr wäre.
Fakt ist aber, dass die aktuell praktizierte „Arbeitslosenindustrie“ in vielerlei Hinsicht nicht ideal funktioniert. Einige Programme zur Wiedereingliederung Beschäftigungsloser verlängern sogar die Arbeitslosigkeit, während die Kosten für Sozialarbeiter*innen, die Arbeitssuchenden helfen sollen, nicht selten den Gewinn für Arbeitslose an Wert übersteigt. Könnte hier ein bedingungsloses Grundeinkommen, das direkt und ohne Auflagen gezahlt wird die bessere Option sein?
2009 startet in London ein einmaliger Versuch. Die Versuchsteilnehmer*innen sind 13 Obdachlose, die den Staat bisher geschätzte 400.000 Pfund im Jahr für Polizeieinsätze, Gerichtskosten und Sozialdienste kosteten. Von jetzt an erhalten sie je 3.000 Pfund monatlich ohne Auflagen zur Verwendung, ohne Überprüfungen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Ein Jahr nach Studienbeginn hat der Durchschnitt nur 800 Pfund ausgegeben; nach anderthalb Jahren haben 7 der Obdachlosen wieder ein Dach über dem Kopf und mehrere haben eine Aus- oder Weiterbildung angefangen. Geschenktes Geld halt also einen Effekt. Bedürftige Menschen erhalten die Mittel, in ihre Zukunft zu investieren.
Sicherheit im Wandel
Immer klarer zeichnet sich ab, dass der technologische Fortschritt mit hoher Wahrscheinlichkeit den Wegfall hunderttausender menschlicher Arbeitsstellen zur Folge haben wird. Ein BGE hätte die Macht die Schockwellen der digitalen Revolution abzufangen und in einer Welt, die einem atemberaubend rasanten Wandel unterworfen ist, für Sicherheit und Stabilität zu sorgen.
Götz Werner, Anthroposoph und Gründer der dm-Drogeriekette sagt über das bedingungslose Grundeinkommen es würde nach den Gesetzen des freien Marktes (Angebot und Nachfrage) dazu führen, dass bisher schlecht bezahlte, aber notwendige Arbeit besser bezahlt und attraktiver gestaltet werden würden. Er rechnet damit, dass der wegfallende Arbeitszwang Menschen im Kampf um faire und menschenwürdige Arbeitsbedingungen stärken würde, da sie nicht länger auf die Stelle angewiesen wären.
Monströser Sozialstaat
Der Sozialstaat, der eigentlich Sicherheit und Selbstwert vermitteln sollte, ist in den vergangenen Jahren immer weiter zu einem System von Misstrauen und Scham degeneriert: Menschen, die auf Leistungen wie Arbeitslosengeld II angewiesen sind, werden systematisch kontrolliert und erniedrigt. Beamte überwachen die Finanzen und den Besitz potenzieller Unterstützungsempfänger*innen, um zu kontrollieren, ob die Leute ihr Geld vernünftig ausgeben und wirklich bedürftig sind. Gelingt ihnen dieser Nachweis nicht, werden ihnen die Leistungen gekürzt; Formulare, Interviews, Kontrollen, Einsprüche, Bewertungen, Konsultationen und noch mehr Formulare: für jeden Antrag auf Unterstützung gibt es ein Verfahren, dass entwürdigt und Misstrauen sät. Mit der Einführung eines BGEs würde der Zwang zur Arbeit entfallen. Die Stigmatisierung Erwerbsloser würde voraussichtlich ausbleiben, da alle von den gezahlten Leistungen profitieren würde und somit der Vorwurf des Schmarotzertums schlichtweg nichtig würde.
Folgen von Armut
Armut hat ernstzunehmende gesundheitliche Auswirkungen: Arme Menschen haben deutlich geringere Lebenserwartungen. Personen, die sich auf ein BGE verlassen, können Arbeit unter gesundheitsschädlichen Bedingungen leichter ablehnen oder die Verhältnisse verbessern. Wer Einfluss auf die eigenen Lebensbedingungen hat und sich nicht unterordnen muss, lebt gesünder. Ausschlaggebend für das Wohlergehen der Bürger*innen eines Landes ist immer das Maß an Ungleichheit zwischen ihnen. Arme Menschen in reichen Ländern sehen tagtäglich, dass es anderen Menschen finanziell besser geht, und bekommen oft zu spüren, dass sie nicht dazu gehören. Armut in reichen Ländern hat psychologische Konsequenzen. Sie beeinträchtigt die Qualität der Beziehungen und führt beispielsweise zu Misstrauen gegenüber Fremden sowie zu Statusangst. Der daraus resultierende Stress trägt erheblich zu Krankheiten und chronischen Gesundheitsproblemen bei.
Wohlstand gleich verteilen
Ein BGE das z.B. über die Einkommenssteuer finanziert wird, würde Reichtum neu und gleichmäßiger verteilen und hätte die Macht, die sich in rasantem Tempo öffnende Schere zwischen Arm und Reich einzufrieren oder sogar zu schließen.
Geschenktes Geld funktioniert
Studien aus aller Welt belegen: Geschenktes Geld funktioniert. Es liegen bereits Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen auflagefreien Zuschüssen und einer Verringerung von Kriminalität, Kindersterblichkeit, Mangelernährung, Teenagerschwangerschaften und Schulabwesenheit sowie einer Steigerung der schulischen Leistungen, des Wirtschaftswachstums und der Gleichberechtigung der Geschlechter gibt.
Tod der Arbeitskultur
Eine große Befürchtung ist, das BGE würde den Tod der Arbeitskultur herbeiführen, da niemand mehr arbeiten wollen würden, wenn fürs Einkommen gesorgt wäre. Für einige Arbeitnehmer*innen mag das tatsächlich der Fall sein.
Seit Jahrzehnten zeigt sich eine durchweg steigende Belastung durch Arbeit, Überstunden, Kinderbetreuung und Bildung: 1985 nahmen diese Aktivitäten 43,6 Stunden pro Woche in Anspruch, bis 2005 stieg die Belastung auf 48,6 Stunden. Nicht selten hört man Menschen prahlen, sie seien regelmäßig 60 oder 70 Stunden in der Woche bei der Arbeit; Depression und Burnout gehören zum Arbeitsalltag und sind keine Einzelfälle mehr, außerdem wird es immer schwieriger, Arbeit und Freizeit voneinander zu trennen. Durch das BGE entfällt der Zwang und Menschen würde der Freiraum gegeben, zu hinterfragen, ob sie überhaupt arbeiten wollen und wenn ja, wie diese Arbeit aussehen soll.
Zweifellos würden sich einige Bürger*innen entscheiden, weniger zu arbeiten, aber das ist ja ein Zweck des BGE, und es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die meisten Menschen tatsächlich arbeiten wollen, unabhängig davon, ob sie darauf angewiesen sind oder nicht. Denn die Motivation zur Arbeit ist eben nicht nur monetärer Art, sondern entsteht auch durch Anerkennung, Selbstverwirklichung und soziale Integration.
Weiter ermächtigt das BGE selbst zu entscheiden, welche Arbeit zumutbar ist. Das wäre eine neue Arbeitsmoral, die individuelle Freiheit und Verantwortung statt erzwungener Tätigkeit großschreibt.
Weniger zu arbeiten, gibt den Menschen die Möglichkeit, mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, sich ehrenamtlich für ihre Gemeinschaft zu engagieren und sich politisch stark zu machen, Viele Bürger*innen hätten zum ersten Mal die Möglichkeit, sich intensiver mit politischen und sozialen Themen auseinanderzusetzen, aktiv zu werden und somit an einer lebendigeren Demokratie zu partizipieren.
Meiner Meinung nach bringt das BGE viel Positives mit sich. Es wäre ein würdevoller Weg, Menschen aus der Armut zu befreien, würde in Krisenzeiten die Menschen vor Not durch Verdienstausfälle bewahren und könnte so auch zur Bewältigung der Coronapandemie hilfreich sein. Doch noch ist nicht alles geklärt. Es bedarf weiterer Studien und Experimente zu Langzeitfolgen und Effekten für die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft.
Ich denke das universelle BGE ist eine vielversprechende Perspektive für das marode soziale Netz der Bundesrepublik:
Wenn das BGE mit der nötigen Übergangszeit und einem effektiven, nachhaltigen Finanzierungsmodell eingeführt wird, kann es, meiner Meinung nach, ein sehr effektives Mittel gegen Armut und die Stigmatisierung Erwerbsloser sein.
In Zeiten großer Unsicherheiten aufgrund der Covid-19-Pandemie erhielt die Diskussion um das BGE wieder neuen Aufschwung: Im Januar 2021 startete ein Forschungsprojekt des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Hier soll Grundlagenforschung geliefert werden: Im ersten Schritt werden die individuellen Effekte von 1.200 € zusätzlich pro Monat erforscht, um Indizien für die Wirkung auf die gesamte Gesellschaft zu sammeln. Die Effekte werden mit einer Vergleichsgruppe überprüft. Die Studie rekrutierte 1.500 Proband*innen, von denen 120 zufällig Ausgewählte das Geld erhalten, während der Rest als Vergleichsgruppe dient. In zwei weiteren Studien werden anschließend Grundlagen der Finanzierbarkeit getestet.
Der Tod der Mittelschicht
Die Mittelschicht, das ist der Kern unserer Gesellschaft. Seit Jahrhunderten bildet sie die Mehrheit der Bevölkerung. Sie hält den Staat am Laufen und ist ausschlaggebend in der Arbeitswelt. In der Ökonomie und Politik wird die Mittelschicht als tragende und stabilisierende Kraft in der Gesellschaft angesehen. Um diese Funktion ausreichend erfüllen zu können, muss der Mittelstand einen möglichst großen Anteil der Bevölkerung ausmachen.
Im wirtschaftlichen Sinne teilt sich die Gesellschaft entlang dem Mittelwert der Gehälter in die einkommensstärkere und die einkommensschwächere Hälfte. Der Mittelstand wird definiert als alle Erwachsenen die als Alleinstehende vor Steuern und Sozialabgaben zwischen 60 und 200 % des Mittelwerts verdienen. Das sind aktuell monatlich zwischen 1500 und 2800 € netto im Monat.
Bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs waren die Menschen klar in die Klassen des Adels bis zu den Besitzlosen geteilt. Diese wurden danach mit der voranschreitenden Demokratisierung in der Weimarer Republik durch gesellschaftliche Schichten abgelöst. Stark vereinfacht waren das die Ober-, Mittel- und Unterschicht.
Der Mittelstand schrumpft
Seit den 1990er Jahren schrumpft die Mittelschicht kontinuierlich. 2013 hatte die Mittelschicht einen Anteil von 54 % an der Bevölkerung in Deutschland. Das sind im Vergleich zu 1991 ganze 6 Prozentpunkte weniger. Es zeigt sich: die Mitte schrumpft. Als zentralen Auslöser dieser Entwicklung sehen Expert*innen das Anwachsen des Niedriglohnsektors in Deutschland, welcher durch eine Zunahme geringbezahlter Jobs in der Dienstleistung und dem Wegfall industrieller Arbeitsplätze begünstigt wird. Auch werden immer mehr Vollzeitstellen in Stellen für Leih- und Zeitarbeit, ebenso wie geringfügige und befristete Beschäftigungen umgewandelt, da diese für die Arbeitgebenden billiger sind.
Dieser Prozesse wird ausgelöst durch das Voranschreiten der Globalisierung und hat schlussendlich eine Verstärkung der Einkommensschere, also der Trennung von Arm und Reich und wachsende soziale Ungleichheit zur Folge. Besonders betroffen in Deutschland sind Menschen mit Migrationshintergrund. Der Mittelstand schrumpft, ebenso ihr Anteil am Volksvermögen. Sie wird zu dem – wie die gesamte deutsche Gesellschaft – älter.
Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer
Gleichzeitig explodieren die Mieten, grade in den momentan so lebenswerten Großstädten. Die Lebenskosten steigen rasant. Darüber hinaus zahlen Deutsche im Vergleich zu europäischen Mitbürger*innen sehr hohe Steuern und Sozialabgaben. Die Kaufkraft und die Fähigkeit des Mittelstands, Vermögen anzusammeln sinkt.
Nichtsdestotrotz verdienen die Vorstände der Top 30 Unternehmen in Deutschland heute zehnmal so viel wie noch vor 30 Jahren. An den Angestellten ist dieser wundersame Geldzuwachs aber spurlos vorbei gegangen, das Realeinkommen ist nur moderat gestiegen. Die Durchschnittslöhne halten nicht Schritt mit der generellen Vermögensentwicklung. Trotz jahrelangem Konjunkturhoch und Rekordbeschäftigung fürchten immer mehr Bürger*innen um ihre finanzielle Zukunft. Inzwischen besitzen 45 Super-Reiche in Deutschland so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung. 45 Menschen besitzen also genau so viel wie 40 Millionen weniger Wohlhabende.
Der französische Wirtschaftsforscher Thomas Piketty untersuchte 2014 die Einkommensentwicklungen der letzten 300 Jahre. Er fand zu allen Krisenzeiten eine Verarmung des Mittelstands, während die Oberschicht in jeder Krise durch höhere Gewinne ihrer Geldanlage reicher wurde. Diese Entdeckung ist auch in der Coronapandemie zu beobachten.
Sinnbild dafür ist sicherlich der Amazon-Gründer Jeff Bezos. Seit Anfang des Jahres stieg sein Vermögen um mehr als 24 Milliarden US-Dollar auf umgerechnet über 126 Milliarden Euro. Währenddessen verlieren weltweit und grade in den USA Millionen von Menschen pandemiebedingt ihre Beschäftigung. Bezos‘ Angestellte arbeiten zum Mindestlohn, während Amazon mehr Umsatz als jedes andere Unternehmen generiert.
Sinkendes Rentenniveau
Die wohl wahrscheinlichste Folge der beschriebenen Entwicklung ist die Altersarmut. Schon im Jahr 2017 betrug die ausgezahlte Regelaltersrente im Durchschnitt nur 902 € monatlich. Zahlen die Rentner*innen davon ihre Miete, kommt es schnell zum Engpass. Die heute noch Berufstätigen müssen mit durchschnittlich noch weniger rechnen. Das liegt daran, dass in Deutschland junge Verdienende fehlen, die mit ihren Einzahlungen die Versorgung ihrer Großelterngeneration finanzieren. Die Bundesrepublik überaltert, was die Problematik noch verstärkt.
Dass in Europa Menschen mit ihrer Rente nicht über die Runden kommen und Studierende hohe Schulden aufnehmen, um dann nach dem Abschluss als Kassierer zu arbeiten während einige Wenige die Früchte des Ungleichgewichts ernten, das hat Folgen.
Einige Betroffene beginnen, an der Demokratie und am Sozialstaat zu zweifeln. Das Gefühl der ungerechten Behandlung führt immer mehr zu einer steigenden Unzufriedenheit mit dem Establishment. Menschen fühlen sich abgehängt und zurückgelassen. Grade in den letzten Jahren werden diese Menschen immer öfter von Rechtspopulisten abgeholt. Sie wettern gegen die „Eliten“ welche die einfachen Bürger*innen vernachlässige und schaffen es so, Zuspruch im Mittelstand zu finden, der jahrzehntelang das Kernklientel der Volksparteien bildete.
Der digitale Todesstoß
Eine neu hinzukommende Herausforderung ist die Digitalisierung. Noch herrscht große Unsicherheit, wie sich digitale Technologie und künstliche Intelligenz auf Routinetätigkeiten auswirkt – sowohl ein Zuwachs als auch der Wegfall Hunderttausender Arbeitsstellen ist denkbar. Das vorherrschende Problem ist, dass die, die ihren Job im analogen Sektor einbüßen nicht auch gleichzeitig die sind, die die Jobs der digitalen Welt übernehmen können. Absteigen werden voraussichtlich ungelernte Arbeitskräfte, während Hochgebildete den Aufstieg meistern. Es braucht ein Umdenken, echte Veränderung, und zwar bald. Weiter die Augen zu verschließen wird Konsequenzen haben.
Chance auf Genesung
Doch wie geht es weiter? Wie schaffen wir es, unsere Kerngesellschaft vor dem wirtschaftlichen Aus zu bewahren? Ein Modell sieht vor, die Sozialabgaben nicht länger vom Gehalt der Arbeitnehmenden abzuziehen. Stattdessen würde von Unternehmen eine pauschale Sozialversicherungsabgabe verlangt werden, welche am Umsatz des jeweiligen Konzerns orientiert wäre. Folglich würde die Mittelschicht weniger zahlen und digitale Riesen, die kaum noch Menschen beschäftigen, aber Milliarden Umsätze generieren (Google, Facebook etc.), zahlen mehr und leisten einen Beitrag zur sozialen Absicherung. Als Nebeneffekt würde Arbeit billiger, ohne die Arbeitnehmenden zu belasten, was eventuell den Reiz von Neueinstellungen steigern würde.
Gleichzeitig sollte man schon jetzt in die Um- und Weiterbildung der Arbeitnehmenden investieren. Wenn Menschen erst einmal flächendeckenden von Maschinen und Algorithmen ersetzt wurden, ist es zu spät, sich zu wehren.
Die deutsche Mittelschicht stirbt. Die Symptome sind da, der Verlust ist für die Gesellschaft nicht tragbar. Aber: es gibt Hoffnung. Wir haben die Mittel, dem Kern unserer Gesellschaft zur Genesung zu verhelfen. Nutzen wir sie!
Fotos: Sharon McCutcheon, Christian Wiediger, Owen Beard – Unsplash
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